Bergmannsverein General Blumenthal
Presse 2013
Von West nach Ost – und umgekehrt
Ist der Solidaritätszuschlag mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch zeitgemäß?
Ein Besuch in Recklinghausen und Chemnitz.
Unmittelbar vor mir erhebt sich ein riesiger, begrünter Hügel: die Halde Hoheward. Sie ist aus
den Schüttungen der umliegenden ehemaligen Zechen entstanden. Auf deren Gipfelplateau,
152 Meter über dem Meeresspiegel, ragt ein Stahlkonstrukt 45 Meter in die Höhe. Was
jahrzehntelang aus der Erde geholt wurde, dient den Menschen heute zur Naherholung. Ich
frage mich: Wo ist das Grau in Grau der Bergarbeitersiedlungen, das ich erwartet hatte?
Ich bin in Recklinghausen, weil meine Kollegin von dort stammt. Ich selbst wurde 1984 in
Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, geboren. In der frühen Nachwendezeit habe ich
erlebt, wie viel der "Fonds Deutsche Einheit" in meiner Heimat bewegt hat. Doch der neue
Osten liegt im Ruhrgebiet, heißt es immer dann, wenn es um die Frage geht, ob der Soli noch
zeitgemäß ist. Davon will ich mich selbst überzeugen.
Meine erste Station: das Recklinghäuser Rathaus. Ein 1908 erbauter, burgartiger Prunkbau,
der vor allem einem Zweck dienen sollte: den (ehemaligen) Reichtum der Stadt
demonstrieren. Etwa 116 000 Einwohner hat die Stadt. "Wenn es die Kohle und die Industrie
nicht gegeben hätte, dann hätten wir heute vielleicht 30 000", sagt Bürgermeister Wolfgang
Pantförder (63).
Der CDU-Politiker ist seit 1999 Stadtoberhaupt. Er weiß: Die Kohle brachte Wohlstand.
Jahrzehnte später sieht das anders aus: Kohle wird nur noch in Marl gefördert, in der Zeche
Auguste Victoria. Der Strukturwandel im Ruhrgebiet klingt für Lokalpolitiker wie Pantförder
deshalb nach einem nett gemeinten Euphemismus: "Die Arbeit ging, aber die Menschen sind
geblieben", sagt der 63-Jährige.
Und noch etwas bereitet dem Bürgermeister der Ruhrgebietsstadt Bauchschmerzen: Um ihre
Schulden in den Griff zu bekommen – allein 2012 betrug das Haushaltsdefizit rund 60
Millionen Euro – müsste die Stadt das Fünffache dessen einnehmen. Dabei hat
Recklinghausen allein im vergangenen Jahr rund 2,6 Millionen Euro in den "Fonds Deutsche
Einheit" gezahlt. Pantförder sieht deshalb nur eine Lösung: einen Bedarfs-Soli für die
Region.
Der Bürgermeister spricht damit Hartmut Olk (59), Günter Speldrich (58) und Michael Steins
(54) aus der Seele. Die drei Mitglieder des Bergmannsvereins General Blumenthal waren ihr
Leben lang unter Tage. Der Strukturwandel? "Das ist der Bankrott der Kleinen", sagt Olk.
"Jahrelang haben wir die Industrie hochgehalten. Jetzt brauchen wir Hilfe. Solidarität heißt,
dass man füreinander da ist", sagt Speldrich. Zwar ist keiner von ihnen durch die
Zechenschließungen arbeitslos geworden, doch den Männern entgeht nicht, dass sich
Perspektivlosigkeit breitmacht – insbesondere unter den jungen Recklinghäusern. Steins
arbeitet noch als Bergmann. Von der Zukunft verspricht er sich nicht viel. "In zehn Jahren gibt
es hier noch mehr Hartz-IV-Empfänger und noch mehr Leerstand. Von Dienstleistung kann
man doch nicht leben. Wir brauchen Produktion", sagt er.
Ich fahre in den Süden der Stadt. Zur muslimischen Gemeinde in die Zentralmoschee. Fast
jeder zehnte Recklinghäuser ist Muslim. Die meisten von ihnen stammen aus der Türkei. Sie
kamen als junge Gastarbeiter in den Jahren des Wirtschaftswunders und folgten dem Ruf der
Kohle. So wie Celal (52) und Rahmi (51), die beide als Hilfsarbeiter unter Tage waren. "Wir
wurden in zwei Wochen ausgebildet und dann unter Tage geschickt. Wir waren keinen
einzigen Tag in der Schule, einen Sprachkurs haben wir nie bekommen", erzählt Rahmi.
Die Männer haben die Abschiedsprämie, 10 500 D-Mark und eine Auszahlung der
Rentenversicherungsbeiträge, mit der Bundeskanzler Helmut Kohl nach seinem Amtsantritt
1982 die Türken in Deutschland zu einer Rückkehr in die Heimat bewegen wollte, nicht
vergessen. Damals haben sie sich in Deutschland nicht willkommen gefühlt. Sebastian
Münste